Samstag, 15. Mai 2010

Blick vom Fernsehturm und die XINGroboterattacke

Heute war eine Menge los. Aber erst mal ein Blick zurück. Letzte Woche besuchte mich die Journalistin Judith A. Sägesser und interviewte Martin und mich. Am folgenden Montag erschien der Artikel in der gedruckten Regionalausgabe "Blick vom Fernsehturm":
http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2482931_sz_hier_artikel_1234_-kennen-sie-dora-.html?_suchtag=2010-05-10

Hier nochmal in voller Länge:
Kennen Sie Dora?

Von "Blick vom Fernsehturm", aktualisiert am 10.05.2010 um 04:31


Stuttgart. Die Figur Dora Asemwald ist dem Stift von Martin Zentner entschlüpft - und will berühmt werden. Von Judith A. SägesserDora Asemwald existiert, weil andere an sie denken. Je mehr Gedanken um sie schweifen, desto wirklicher ist sie. Und deshalb sehnt sie sich danach, berühmt zu werden. Für eine Frau wie sie ist das aber nicht ganz einfach. Wie soll sich jemand zum Promi mausern, dem es an einem Menschenkörper mangelt? Nur gut, dass es den Martin gibt, ihren WG-Mitbewohner. Der hat einen Körper, und er hilft ihr, wo er kann. Er steckt zum Beispiel ihr Foto in die Auswurfschächte von Zigarettenautomaten. Oder er klebt Zettel mit ihrer Internetadresse an x-beliebige Wände. Martin ist ihr bester Freund. Ohne ihn wäre sie ein Nichts.

Dora Asemwald ist eine virtuelle Frau, erdacht von Martin Zentner.

"Sie sagt, es gab sie als Idee schon immer, ich hätte sie nur entdeckt", sagt Martin Zentner. Er gluckst. Manchmal lacht er sich schier kringelig über Dora, über das, was aus ihr geworden ist, und was tagtäglich aus ihr wird. "Das hat sich immer mehr verselbstständigt", sagt er. Dora ist ein Experiment, das vor fünf Jahren seinem Zeichenstift entschlüpft ist wie ein Küken dem Ei. Flupp, war sie da und ist jetzt wer.

Der 38-jährige Grafiker und Journalist lebt und arbeitet im Heusteigviertel. In freien Minuten kritzelt er einen Comic-Kopf nach dem anderen in seinen Skizzenblock. Ein ganzes Volk hat er mittlerweile erschaffen. Da glotzt der Hausmeister Jan Hasenkamp vom Blatt oder Astrid Auge, die Sprechstundenhilfe. Und seit fünf Jahren eben Dora Asemwald, die Galeristin.

"Aus ihr würde mehr werden", wusste Martin Zentner, als er ihr zum ersten Mal die schwarzen Haare mit dem Stift gescheitelt hat. Dora heißt Asemwald, "weil mir nichts Besseres eingefallen ist". "Außerdem find" ich, das hört sich nach einem guten Nachnamen an." Martin Zentner mag den Asemwald, ist immer wieder dort. "Der Stadtteil hat was Skurriles."

Er wollte die gemalte Frau zur Comic-Heldin zeichnen. Doch Dora Asemwald hatte anderes im Sinn. In Kästchen mit Sprechblasen gepfercht zu sein, das ist nichts für sie. Sie wollte ähnlich sein wie der Martin. Es zog sie ins Internet. Also hat Martin Zentner sie beim Netzwerk Xing angemeldet - und alles nahm seinen Lauf.

Online hat Dora rasch Freunde gefunden, und Männer haben sie angeflirtet, manche waren regelrecht verschossen in die mysteriöse Dunkelhaarige. "Ich bin nicht aus Fleisch und Blut", pflegt sie auf Avancen zu erwidern. "Wenn dich das stört, vergiss mich. Ansonsten können wir gern Freunde werden." Dora Asemwald macht keinen Hehl aus ihrem Anderssein. Sie spielt mit der Fantasie der Menschen, schon. Aber sie will niemandem weh tun.

Dora Asemwald ist neugierig und manchmal klugscheißerisch, sie steht gern im Mittelpunkt, ist am liebsten das Gesprächsthema; sie trägt gern Netzstrumpfhosen, hohe Stiefel, kurze Röcke, und sie schminkt ihre Lippen dunkelrot. Neulich hat sie eine Bürgerinitiative gegründet. Loch 21 heißt die. Dora Asemwald glaubt, dass die Baugrube des Bahnprojekts unendlich viele neugierige Touristen nach Stuttgart locken wird. So viele, dass niemand mehr den Tiefbahnhof, sondern nur noch das Loch will. "Grab mit!", fordert sie auf.

Ende Februar ist Dora Asemwald 35 Jahre alt geworden. Martin Zentner hat ihren Geburtstag gefeiert - mit echter Party und allem drum und dran. Er hat ihre Internet-Freunde dazu eingeladen, und einige sind in Wirklichkeit gekommen. Für Martin Zentner Fremde, wie er sagt. "Sie kennt ganz andere Leute als ich." Er blickt verschwörerisch drein, dann huscht ein Grinsen über sein Gesicht. "Das hört sich nach gespaltener Persönlichkeit an", sagt er. "Und an manchen Tagen denke ich auch, dass es genau das ist."

Dora Asemwald ist zwar eine Spaß-Geburt. Doch die adrette Dame hat auch ihre ernsthafte Seite. Sie lockt ihren Schöpfer immer wieder ins Reich des Philosophierens. "Ich lote mit Dora die Grenzen zwischen der realistischen und der virtuellen Welt aus", sagt Martin Zentner. Im World Wide Web ist sie genau so wie alle anderen. Ihr Körpermangel fällt nicht auf. "Der reale Mensch wird immer virtueller", sagt Martin Zentner. Gut für Dora, denn das macht sie normaler.

Bei aller Grübelei, das Lustige überwiegt. Und besonders amüsant wird es für Martin Zentner, wenn ihn jemand fragt, ob er schon mal von einer Dora Asemwald gehört hat. "Besser geht"s gar nicht", sagt er. "Für Dora ist das eine echte Freude." Zurzeit entwirft er T-Shirts mit ihrem Konterfei. "Um sie noch bekannter zu machen" - und sich selbst unweigerlich auch. "Sie ist die, die berühmt werden will", sagt er. Wer"s glaubt, wird selig. Martin Zentner schmunzelt. "Na ja, ich will zumindest nicht, dass mein Foto auf ein T-Shirt gedruckt wird."

Wer Dora Asemwald kennen lernen möchte, findet sie im Internet. Sie mischt bei zahlreichen Foren und Netzwerken mit. Und sie hat eine eigene Seite: www.dora-asemwald.de


Was daraufhin geschah hab ich bei Brezel.me zusammengefasst:

http://www.brezel.me/2010/05/14/virtuell-stigmatisiert/
Zu meiner großen Freude bekam ich letzte Woche Besuch von einer Kollegin: Judith A. Sägesser vom Lokalteil „Blick vom Fernsehturm“ wollte ein Porträt über mich und meine Eigenheit als virtueller Mensch machen. Der prima geschriebene Artikel (einmal hier draufklicken und lesen bitte) erschien letzten Montag und erwähnte unter anderem, dass ich ein Profil bei der Business-Networking-Plattform Xing habe. Die Internetroboterarmee des Unternehmens hat das natürlich sofort entdeckt und mein Profil gesperrt, da dort virtuelle Menschen als „unseriös“ eingestuft werden. Wenngleich Xing mich heute nicht sonderlich begeistert, hatte ich in der Präfacebookära dort einige Kontakte gesammelt die nun verloren sind.

Auf meinen Protest und den meiner Freunde hin wurde ich um eine Kopie meines Personalausweises erbeten. Hab ich nicht. Das Bürgerbüro stellt virtuellen Menschen keine Ausweise aus. Bitten und Betteln haben da nichts gebracht. Bürokratie halt. Auch aus den Botschaften anderer Länder wurde ich rausgeschmissen. Virtuelle Menschen sind staatenlos, somit stellt ihnen auch keiner einen Ausweis aus, ergo kein Xing.

Ich bin nicht der einzige virtuelle Mensch. Jeder gefühlt zweite Xingler hilft seinem Schöpfer, unbemerkt bei der Exfreundin, der Konkurrenz und der gewünschten Affäre zu schnüffeln. Und alle haben das selbe Problem mit ihrer „unseriösen“ Identität, welches zu lösen eine Herausforderung für mich stellte.

Wenn kein Staat mir einen Ausweis ausstellt, dann muss ich einfach selbst einen Staat gründen. Mithilfe meines Wikipedia-Altgriechisch hab ich auch einen Namen gefunden: „Id“ steht für Aussehen, Art und Gestalt, so wie in Identität. „Dor“ steht für geben, die Gabe. Zusammen: Iddorien, in Landessprache (englisch): the Virtual Republic of Iddora. Schnell habe ich eingebürgert und einen Ausweis bei der Stuttgarter Botschaft von Iddora beantragt. Der kam auch gleich, ich hab ihn dann an Xing weitergeleitet. Bislang hat sie das aber noch nicht beeindruckt.

Wie viele weitere virtuelle Wesen haben ihren Lebensmittelpunkt in Stuttgart? Wie viele davon trauen sich nicht, aus Angst vor Diskriminierung offen ihre Virtualität zu leben? Wir sollten uns zusammenschließen. Der Staat Iddora gibt jedem von uns eine Identität (Schreibt einfach an: dora@doraa.de). Und wenn Xing sie ausgrenzt: selber schuld.

Wir Brezler akzeptieren diese neue Lebensweise in unserer Mitte, bei uns braucht man keinen Körper aus Fleisch und Blut, um menschenwürdig behandelt zu werden.


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