Dienstag, 21. September 2010

Absolut relativ



Gibt es eine absolute Wahrheit oder nicht? Mit dieser Frage endete vorläufig die Diskussion zum letzten Artikel. In einer heißen Diskussion über den derzeitigen Star der Streitthemenszene, Stuttgart21, warf mir ein S21-Befürworter vor, Schuld am rauen Umgangston in der Diskussion auf beiden Seiten zu suchen. Dabei sei die Sachlage eindeutig. Gegner seien im Unrecht. Befürworter im Recht. Und Dora sei eine denkfaule Relativistin und somit eine moralische Gefahr für die Menschheit. Der Wahrheitsalarm in meinem konstruktivistisch geprägten Hirn ging sofort auf Stufe rot.

Eine absolute Wahrheit, eine Realität wäre ein universeller Maßstab, an welchem alle Weltsichten auf ihre Validität geprüft werden könnten. Ich jedoch behaupte, dass das, was wir als Wahrheit betrachten nur ein gesellschaftlicher Konsens ist.

Absolute Wahrheit
Nehmen wir mal an, es gäbe sie, die absolute Wahrheit. Im Bereich physischer Existenz funktioniert das noch ganz gut. Man kann noch so unterschiedlicher Meinung sein, auf die Existenz eines Flusses, eines Berges oder eines Menschens kann man sich einigen. Wird man spezifischer, kann schon ein Duplo oder die längste Praline der Welt die Geister spalten. Denn hier kommt Interpretation ins Spiel. Ein Messer kann Werkzeug und Waffe sein. Es kommt auf den Kontext an, zum Beispiel der Rücken eines Feindes oder einfach ein Brot. Abstrakte Begriffe ziehen uns dann vollends den Teppich der Realität unter den Füßen weg.

Absolute Moral
In unserer Diskussion kamen wir auf ein besonders brisantes Thema in der Welt des Abstrakten: Moral. Mein absolutistischer Antagonist sieht eben dort eine absolute Wahrheit jenseits kultureller Übereinkünfte. Das machte er am Beispiel der Steinigung ehebrüchiger Frauen fest. Er denkt, dass deren moralische Beurteilung nicht eine kulturelle Frage sei, was es meiner relativistischen Sichtweise nach jedoch der Fall ist. Demnach akzeptiere ich, dass eine steinigende Kultur aus ihrer eignen Perspektive moralisch richtig handelt. Das zu akzeptieren heißt noch lange nicht, es gut zu heißen.
Es gibt wiederum Kulturen, die steinigende Kulturen zur Sicherung der eigenen wirtschaftlichen Interessen niederbomben und besetzen. Dabei sterben viel mehr Menschen als je Frauen gesteinigt wurden. Ist ihr Handeln moralisch besser? Ein Absolutist behauptet, dass die Frage eindeutig zu beantworten sei. Ich kann sie nicht beantworten.

Absoluter Glaube
Moral ist oft tief in der jeweiligen Religion verwurzelt, Kirchen werden heute immer noch als moralische Institutionen geachtet. Jede Kirche hat ihren eigenen moralischen Maßstab. Die einen lassen zu, dass Ehebrecherinnen gesteinigt werden, die anderen dass sich tödliche Seuchen ungehindert verbreiten können weil sie gegen den Gebrauch von Kondomen sind. Aus der Sicht des einen ist es im Sinne Gottes und somit gut, aus der Sicht des anderen ist es Völkermord. Jede Kirche beansprucht für sich im Besitz der Wahrheit zu sein, teilt also das „absolutistische“ Weltbild. Das müssen sie, denn mit der relativistischen Sicht lässt sich schlecht Macht aufbauen. Gibt es nur eine Wahrheit, dann hat maximal eine der Kirchen recht.Welche ist es? Ich weiß es nicht. Der Streit um die Deutungshoheit der Wahrheit ist Ursache fast aller Kriege. Nur wer glaubt, im Auftrag der absoluten Wahrheit zu sein ist auch bereit sich dafür erschießen zu lassen.

Relative Toleranz
Der Wunsch nach einer höheren Wahrheit, die all dass was wir als unmoralisch empfinden verurteilt, ist groß. Der Gedanke, dass unser Sinn für's Gute „nur“ kulturell bedingt ist, ist nicht so einfach zu schlucken. Wenn man aber akzeptiert dass es keinen allgemeingültigen Maßstab gibt und jede Kultur, jede Gesellschaft, jeder einzelne Mensch die Welt nach eigenem Ermessen beurteilt, ist man in der Lage, andere leichter zu verstehen, mit ihnen zu kommunizieren und auszukommen. Frieden basiert auf Toleranz. Dies soll jedoch kein Freischein sein, alles und jeden gut zu finden. Ich darf immer noch aus meinem eigenen Standpunkt heraus urteilen und handeln. Auch wenn ich akzeptiere, dass es in anderen Kulturen üblich ist, Kinder schon in jungen Jahren rund um die Uhr arbeiten zu lassen heißt das noch lange nicht, dass ich dies durch meinen Konsum ihrer Produkte unterstützen muss.

Keine einfachen Wahrheiten
Der mir zuvor vorgeworfene „Relativismus“ ist keine leichte Ausrede dafür, mich nicht festlegen zu wollen. Er fordert von mir ein, mich stets selbst festlegen zu müssen und keine einfachen „Wahrheiten“ zu akzeptieren. Das ist mitnichten der einfachere Weg, jedoch für mich der einzig gangbare.

PS:
Wer sich nicht damit abfinden kann, dass es eine einzige wahrhaftige Realität „da draußen“ gibt, sollte sich mal mit den radikalen Konstruktivismus anfreunden. Ich betreibe zu diesem Thema eine Facebook-Seite und freue mich über alle Mitglieder, egal ob Einsteiger oder Großkonstrukteur.

11 Kommentare:

  1. wie kommense auf die idee, dass ich befürworter bin? oder dass ich gesagt habe, gegner seien im unrecht, befürworter im recht? oder spielt das gar nicht auf mich an? oder habe ich das doch gesagt und wieder vergessen?

    auf die konstruktivismussache gehe ich nachher noch ein...

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  2. fürs erste schicke ich nur voraus:
    Soll ihre Behauptung, "dass das, was wir als Wahrheit betrachten nur ein gesellschaftlicher Konsens ist" denn nicht selbst wahr sein? absolut wahr? oder nur relativ? -- Konsens? ohne mich!

    Was Sie da behaupten, widerlegt sich doch umgehend selbst.

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  3. ich denke, die diskussion wird klarer, wenn wir uns nur auf die eine these einschießen:
    wer behauptet, alles sei nur subjektive konstruktion - oder anders gewendet: alles ist relativ -, der erhebt für eben diese behaptung einen anspruch auf wahrheit, die mehr sein soll als bloß subjektive konstruktion.

    denn wäre es anders, dann wäre die these des radikalen konstruktivisten eben nur für ihn selbst gültig, aber nicht für alle, insbesondere natürlich nicht für denjenigen, der davon ausgeht, dass es eine objektive wahrheit gibt. wer davon ausgeht, dass es objektive wahrheit gibt, der kann auch eben dies mit wahrheitsanspruch behaupten. der radikale konstruktivist kann eben dies nicht. der RK macht also sozusagen stumm.
    ich denke nicht, dass der konstruktivismus falsch ist. ich denke dass der *radikale* konstruktivismus falsch ist. das heißt: als eine theorie, die für bestimmte dinge gültig ist, stimmt er. aber als alleserklärungstheorie, ist der konstruktivismus nicht haltbar.

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  4. Gut das wir von der Bahnhofsdiskussion abgekommen sind. Ich muss auch eingestehen, dass ich einem Denkfehler unterlaufen bin: Nur weil sie die demonstrierenden Gegner angemahnt haben heißt das noch lange nicht, dass sie ein Befürworter wären. Da hab ich in schwarz und weiß gedacht. War falsch, auch hier gibt es viel mehr als zwei Positionen. Der Antiamerikanismus war jedoch nicht kaschiert, hier ging es um was ganz anderes. Es ging um das Aufzeigen von verschiedenen moralischen Standpunkten und ein als moralischer Krieg kaschierter Wirtschaftskrieg ist ein gutes Beispiel dafür. Könnte man lange drüber diskutieren, aber ich glaube das lenkt vom Thema ab. Ich werde sobald ich die Ruhe dazu hab mir Gedanken über Ihren Text machen und darauf antworten. Ich freue mich jedenfalls dass hier endlich mal jemand ordentlich und fundiert Paroli bietet! Nur so wird man schlauer.

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  5. Die Sache mit dem "Antiamerikanismus" ergab sich mir eben durch die hochtendenziöse Wortwahl - "niederbomben", anstatt den sachlich neutraleren und üblichen Ausdruck "bombardieren" zu gebrauchen. Wobei ich weiterhin hochfragwürdig finde, ob denn hier "Kulturen" bombardiert werden, oder nicht vielmehr feindliche militärische Ziele. Auch ob dies "zur Sicherung der eigenen wirtschaftlichen Interessen" geschieht, mag man in Frage stellen. In dem Fall, an dem man hier denken wird, ist dies wohl ziemlich sicher nicht so. Natürlich klingt "wirtschaftliche Interessen" immer ganz böse und gemein. Anders sieht es aus, wenn man von "Sicherheitsinteressen" spricht (deren Wahrung natürlich immer auch die Wahrung wirtschaftlicher Interessen nach sich zieht - immer wird eine Wirtschaft nur dort gedeihen, wo es auch sicher ist. Wer aber bedroht ist und seine Sicherheitsinteressen wahrt, wird das nun gewiss nicht vorrangig aus Wirtschaftsinteressen tun, sondern eben weil er bedroht ist und seine Sicherheit in Frage steht.)

    Wie auch immer, auch das alles sind keine Fragen, über die man hier inhaltlich diskutieren muss. Jedenfalls zeigt sich aber hier, dass man von scheinbar hochabstrakten Fragen schnell zu lebensweltlich recht nahen Problemen kommt. Ich fand es halt sehr auffällig, dass Sie die Sachverhalte, von denen ich eben schrieb, mitnichten neutral beschrieben, sondern in moralisch stark gefärbten Ausdrücken. Wie kommt es, dass (so meine ich beobachtet zu haben) Moralrelativisten da oft schon im Ausdruck moralisierender sind, als Leute, die eine objektiv gültige Moral unterstellen und in ihren Sachverhaltsbeschreibungen neutraler bleiben? Müsste es nicht genau umgekehrt sein?
    Welchen Zweck könnten denn Sachverhaltsbeschreibungen haben, in denen die eigene Empörung so zum Ausdruck kommt? Ein Moralrelativist spricht sich ja die Berechtigung ab, andere Leute moralisch zu verurteilen. Er kann also höchstens sagen "ich finds schlecht, ich bin empört", nicht aber jemand anderen moralisch tadeln - der Andere haben ja eben ein anderes Moralsystem und das sei zu akzeptieren. Oder geht es darum, andere Leute durch moralisch gefärbte Sachverhaltsbeschreibungen (unterschwellig) von den eigenen moralischen Einschätzungen bzw. dem eigenen Moralsystem zu überzeugen? Vielleicht, auch wenn der Moralrelativist damit wohl, genauer besehen, seinen eigenen Prinzipien zu widersprechen scheint (wobei, streng genommen, ein Relativist ja nicht über Prinzipien verfügt).
    Nein, ich glaube der Hauptgrund liegt hier: Da der Moralrelativist Moral letztlich auf seine eigenen Gefühle reduziert - "Moral ist, was ich gut finde und unmoralisch ist, was mich ärgert" - scheint es, so meine Vermutung, mit der Verwendung von nichtneutralen Ausdrücken zur Beschreibung von Sachverhalten schlicht zumeist darum zu gehen, die eigenen Gefühle der moralischen Empörung irgendwie zu "bearbeiten": Sei es, um sie abzubauen oder zu sublimieren, oder sei es, um sie noch weiter zu verstärken (man steigert sich ja gewissermaßen weiter rein).
    (Das waren jetzt eher allgemeine Überlegungen, nicht auf Sie direkt bezogen...)

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  6. mal abgesehen davon, dass ich den begriff "radikaler konstruktivismus" als (im wahrsten sinne des wortes:) unschön und irreführend empfinde: diese alte streitfrage, ob der konstruktivismus sich selbst widerlegt oder nicht, sie beruht auf einem nicht ausrottbaren missverständnis.
    ich ziehe den begriff "selbstreferenzielles denken" vor. das meint letztlich eine haltung oder auch eine tägliche übung: nämlich immer wieder in den zirkel des beobachtens des eigenen beobachtens "wiedereinzutreten" (re-entry). das heißt, die verantwortung für sein beobachten zu übernehmen. so zu beobachten, dass "mehr möglichkeiten" (heinz von fgoerster) entstehen und dass leben sich in seiner vuielfalt entfalten kann; dass man nicht die eigenen ressourcen untergräbt, sich den ast absägt, auf dem man sitzt.
    der satz "ich weiß, dass ich nichts (genau) weiß" ist keine ist-aussage, sondern eine anweisung, in bestimmter weise zu beobachten. eine anweisung, die eine einladung ist: komm und sieh selbst, was passiert, wenn du diese haltung einnimmst!

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  7. und noch um thema "moralrelativist": selbstreferenzielles denken ist a-moralisch, es ist weder moralisch noch unmoralisch. allenfalls kann man von einer "fraktalen" moral sprechen (wieder mal: heinz von foerster). sie beruft sich nicht auf ewig wahre werte, sondern IST einfach der permanente Versuch, verantwortlich zu beobachten (=handeln), das heißt so, dass das Leben weitergehen kann und sich nicht selbst zerstört.

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  8. deshalb haben RK oder systemtheorie und ja auch verdächtig wenig für unseren alltag, soll heißen: für die eigentlichen probleme in der welt, zu sagen. sie können allenfalls noch aufweisen, warum oder wie diese probleme entstehen. warum wir sie aber als probleme empfinden, warum es überhaupt probleme sein sollen, wohl kaum.
    warum systemerhalt oder das fortschreiben von leben werte sein sollen - warum also leben weiter gehen können und nicht sich selbst zerstören soll, lässt sich mit den mitteln der systemtheorie nicht begründen. das führt hier ganz offensichtlich auf einen naturalistischen fehlschluss.
    mir scheint, als würde systemtheorie sich gegen die wahrheitsfrage immunisieren und das ganze noch als zirkulären einstieg zu zelebrieren. nicht, dass es nicht eine wunderbare theorie wäre. und nicht, dass nicht gerade luhmann den blinden fleck mitreflektiert hätte. und sogar zur tugend gemacht hätte! aber dass man sich verbietet, über bestimmte dinge zu sprechen, heißt eben nicht, dass es diese nicht gäbe.

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  9. die beiträge sind mir hier zu lang. ich habe leider nicht die zeit, mir das alles durchzulesen, die einzelnen argumentationsstränge zu verfolgen und auseinanderzuhalten.

    ich halte es mit heinz von foerster: "wahrheit ist die erfindung eines lügners". wie schon buddha sagte: du musst die wahrheit letztlich in dir selbst finden, du findest sie nicht in heiligen büchern, bei autoritäten oder in seit alters her bewährten werten.
    ZITAT >>> „Relativisten (…) verfügen (...) über Prinzipien, die sich in einer Gesellschaft als Konsens über lange Zeiträume entwickelt und bewährt haben.“ >>>>
    die frage nach der wahrheit ist unentscheidbar, und nur die unentscheidbaren fragen lassen sich entscheiden (denn anders wären sie ja schon entschieden).
    und: ich persönlich - franz - werde immer so entscheiden, dass ich nicht den ast absäge, auf dem ich selber sitze; und das heißt: so, dass mehr möglichkeiten für das leben enststehen.
    und: ich versuche, kein -ist zu sein (relativist, konstruktivist, moralist, ...). wer konsequent selbstreferenziell denkt, der "ist" kein "-ist", er verfügt über gar nichts.
    so, das wars, mehr habe ich dazu nicht zu sagen.

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  10. Lieber Franz, danke du du dich beteiligt hast. Dein Schlusswort bringt's ganz gut auf den Punkt. Ich bin ja auch keine -istin, bin nur an -ismen interessiert um mein eigenes Weltbild zu erweitern. Als -istin müsste ich mich festlegen, gar festfahren. Das wäre doch recht langweilig. Diese Diskussion mit all ihren Strängen hat mein Weltbild auf jeden Fall erweitert. Danke!

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  11. ohne alles gelesen zu haben, nämlich ein Leben da draußen lebend, denk ich mir gerade: wenn es eine absolute Wahrheit gäbe, dann gäbe es keine Evolution durch Selektion: Dann gäbe es keine widerstreitenden Wahrheiten, keine diskutierenden Männer, keine zuhörenden Frauen, wegen der Emanzipation: oder umgekehrt, keine blutflussfreien Bewährungsproben, keine blutigen, keinen Applaus, kein Durchsetzen, kein Gewinnen, keine klare Sicht auf die Fittesten, keine zukunftsträchtigen Partnerwahlen der Schönsten, nichts, gar nichts - nein, das alles wär nicht möglich, wenn allen alles klar wär! Deshalb darf es auch gar keine absolute Wahrheit geben! Nieder mit der einzig wahren Realität! Verbrennt sie! Sie schadet der Fortpflanzung! Es darf sie zwar geben, der Mensch darf sie aber nicht kennen, wenn er leben will! :)

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