Wie bei vielen ist bei mir in der letzten Zeit – genau gesagt seit der Landtagswahl – die Protestfreude etwas eingeschlafen. Wir haben es nicht nur geschafft, die Laufzeitverlängerung eines störanfälligen Landesvaters abzuwenden, sondern sogar dessen Antipode ins Amt gewählt. Aber eine Altlast einer geistig im Wirtschaftswunder steckengebliebenen Regierung haben wir immer noch an der Backe hängen: Der Erdbahnhof namens Stuttgart 21, ein Größenwahnprojekt, dessen Nutzen jenseits unspezifischer Wachstumträume unüberschaubare Kosten entgegen stehen. Damit hat alles angefangen, das war der gemeinsame Nenner des Protestes, der sich in allgemeine Systemkritik ausgeweitet hat. Eine Schlichtung und viele Blockaden später hat sich am grundsätzlichen Problem nichts, am Widerstand jedoch einiges geändert.
Das Volk wurde anfangs laut, weil es keiner hören wollte. Mit kreativem Engagement breiter Schichten wurde so viel Rabatz gemacht, dass sich kein noch so ignoranter Politiker mehr davor verschließen konnte. Deutschlandweit wurde der Stuttgarter Bahnhof durch die Medien gejagt und hat vielen Politikern die Karriere versaut. Es schien, als hätte der Protest Erfolg gehabt. Hat er aber nicht. Der Bahnhof soll immer noch gebaut werden. Aber noch kann er gestoppt werden. Theoretisch auf jeden Fall. Ob es wirklich geht und mit welchen Mitteln ist eine kontroverse Frage, die einst vereinte Erdbahnhofsgegner heute entzweit. Ob Montagsdemos, Sitzblockaden, ziviler Widerstand, Parkbesetzung oder Schwabenstreich, die Mittel des Protests sind mannigfaltig. Doch welche davon heiligt der Zweck? Darüber könnte man diskutieren, streitet aber viel lieber.
Jeder hat sein eigenes Maß, ich kann hier nur von meinem sprechen. Ich frage mich zum Beispiel stets, wie ich reagieren würde wenn der politische Gegner das selbe täte. Tut er vielleicht sogar. Aber das rechtfertigt nicht, dass ich es ihm gleich tue. Wer „Lügenpack“ ruft, darf selbst nicht versuchen, die anderen zu täuschen. Wer Offenheit fordert, sollte nicht im Verborgenen mauscheln. Auch wenn es dem Zweck diente. Viel zu oft bemerke ich, dass die gefühlte moralische Überlegenheit als Rechtfertigung für fragwürdiges Handeln herhalten muss. Nur weil man sich im Recht wähnt, hat man nicht mehr Rechte. Man wird schnell selbst zu dem, wogegen man auf die Straße geht.
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Dabeisein ist alles
Ich halte es für notwendig, das eigene Handeln stets kritisch zu hinterfragen. Das schwächt nur auf den ersten Blick das Vertrauen in dessen Angemessenheit, aber nicht alle wagen einen zweiten Blick. Wer hinterfragt oder gar kritisiert, wird oft als Spalter beschimpft. Zweifel sind nicht erwünscht. Man befürchtet, dass die Bewegung dadurch Schaden nehmen könnte, denn nur gemeinsam sei man stark. Eine solche geschlossene Gesellschaft kann sehr stark sein. Religiöse Vereinigungen basieren darauf. Sie formulieren Dogmen und vertreten sie unreflektiert, aber standhaft. Klare Regeln geben Halt, Orientierung und Sicherheit, machen vermeintlich unangreifbar. Man ist Teil von etwas Größerem, einer Bewegung. Und es gibt nur zwei Möglichkeiten: Man ist aus vollem Herzen dabei oder man ist raus. Mangelnde Reflektion des eigenen Verhaltens lässt vergessen, worum es eigentlich geht. Dabeisein ist alles. Widerstand wird zum Selbstzweck.
Parolen und Rituale festigen das Gemeinschaftsgefühl, helfen dem Individuum in der Gruppe aufzugehen. Sie vereinheitlichen und zementieren Meinung, sind derer Vielfalt Feind. Hört sich schlimm an, ist jedoch notwendig wenn es darum geht, einen sichtbaren Widerstand zu formieren. Leider. Es ist ein schmaler Grat zwischen der Stärke geschlossener Reihen und der Freiheit der Gedanken. Es ist verlockend aber gefährlich sich als Teil eines Größeren mitreißen zu lassen. Das Gefühl mit Zehntausenden durch die Straßen zu ziehen und mit der Vuvuzela dem einenden Feind entgegenzutröten ist berauschend – und macht mir Angst. Angst vor meiner eigenen Anfälligkeit in der Masse aufzugehen und mitzuschwimmen. Angst vor dem Gefühlstsunami, der über mich schwappt und mein kritisches Denken wegschwemmt. Alle Alarmglocken gehen an.
Schwindender Protest
Nicht alle haben ein solches Alarmsystem. Aus Widerstand wird Lebenssinn, Kritik ist nicht mehr erwünscht, Kommunikation mit Andersdenkenden wird zunehmend schwieriger. Es bedarf nicht vieler Fanatiker, um gemäßigtere Bahnhofsgegner zu vergrätzen. Und die bleiben dann fern, die Bewegung wird zur geschlossenen Gesellschaft. Nach außen scheint es, als ob der Widerstand verschwinden würde. Und das ist ein großer Irrtum. Nur weil viele Leute nicht mehr gegen das Großprojekt auf die Straße gehen, heißt das noch lange nicht, dass sie sich damit abgefunden haben. Und nicht alle wollen einen Bahnhof zu ihrem Lebensinhalt machen.
Ich freue mich, das Leute ihre Zeit und Energie in den Protest stecken, Gruppen bilden, Aktionen durchführen – solange diese nicht all zu tief in die Illegalität eintauchen und die Verantwortung für das Handeln getragen wird. Angst wird es mir nur, wenn es sektiererische Züge annimmt, der Protest zum Selbstzweck wird und Andersdenkende auch in den eigenen Reihen angefeindet werden. Es ist notwendig, die eigene Position aus einem anderen Blickwinkel zu hinterfragen, die eingeforderten ethischen Grundsätze auch an sich selbst anzulegen. Sonst verlieren wir das gemeinsame Ziel aus den Augen: Den Erdbahnhof zu verhindern.