Sonntag, 19. Dezember 2010

Erinnerungsbalast

 



Geschichte von Ben Katchor für das Metropolismag.com

In dieser Geschichte eines meiner liebsten Autoren, Ben Katchor, wird eine Zukunft vorgestellt, in welcher nichts mehr verloren gehen kann. Jeder Gegenstand ist für immer per Internet ortbar, überträgt Bild und Ton und ist somit unverlierbar. Das klingt zuerst verlockend, denn wer verliert schon gerne seine Schlüssel, den Fahrschein oder eine spezielle Telefonnummer? Dinge die uns belasten verlieren wir da viel lieber. Wenn wir sie nicht von alleine verlieren, können wir sie ja auch aktiv verlieren, also wegwerfen. Tun wir aber nicht. Besitz bleibt wie Dreck an uns kleben. Wir könnten dies und das ja noch mal gebrauchen, so schallt der Selbstbetrug im inneren Ohr. Tun wir eben so wenig. Gegenstände sammeln durch ihren Gebrauch Erinnerungen an, jene klebrige Masse, die uns daran hindert, Dinge einfach zu entsorgen. Erinnerungsstücke dienen als Stützpfeiler unserer Autobiografie. Sie ist ein Baustein unseres Gefühls von Identität.



Die Gnade des Vergessens
Erinnerungsstücke zu verlieren schmerzt besonders weil wird befürchten, dadurch auch die Erinnerung selbst aufzugeben. Und so sammeln wir im Laufe eines Lebens immer mehr Erinnerungsbalast innerhalb und außerhalb des Kopfes an. Er verkleistert die Wahrnehmung für das Jetzt und versperrt den Blick nach vorne. Nur eines kann uns aus diesem Sumpf ziehen: Die Gnade des Vergessens. Sie mistet im Innern aus, das Verlieren ist ihr greifbares Pendant. Es befreit uns oft von Ballast, den wir freiwillig nie abgelassen hätte. Bei den meisten Dingen merken wir erst wenn sie weg sind, ob wir sie wirklich brauchen. Ihre Funktion kann oft anders besser erfüllt werden. Wir füllen die Lücke, die das Verlorene hinterlassen hat einfach neu und entwickeln uns dabei weiter.


Bausteine des Ichs
Erinnerungen sind nicht die einzigen Bausteine unseres Ichs. Wir definieren uns auch darüber, wie wir wahrnehmen, urteilen und handeln. Die dem zugrunde liegenden Maßstäbe leiten sich jedoch aus unserer Erfahrung ab. Es ist jedoch nicht so sehr das explizite, biographische Faktenwissen, welches uns formt. Es ist vielmehr die Intuition die sich im Laufe eines Lebens ausbildet, das Unbewusste, eben jenes Bauchgefühl, das uns bei komplexen Entscheidungen den Weg weißt, das uns sagt, ob wir jemanden trauen können oder nicht. Die faktische Beschreibung einer Situation verschwimmt auf Dauer, was bleibt ist das, was es mit uns gemacht hat.


Erinnerungen sind am Ende des Lebens alles, was uns bleibt. Doch so lange ich lebe konzentriere ich mich lieber darauf neue Erinnerungen zu schaffen. In einer Welt, in der wir weder vergessen noch verlieren könnten wäre bald kein Platz mehr für Neues. Wir wären wandelnde Müllhalden den Vergangenheit. Ich fordere das Recht zu Vergessen und Verlieren ein!


http://www.katchor.com/

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