Sonntag, 8. August 2010

Urgroßvater im Geiste

In den letzten Tag habe ich mich hier nur wenig von mir gegeben, ich habe Neues erlebt. Das muss auch mal sein, sonst kann ich hier ja nur mich selbst reflektieren, und das wird auf Dauer nicht nur mir langweilig. Ich genieße in letzter Zeit ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit seitens der Nutzer von Facebook, mit denen ich über dies und das in den Kommentaren diskutiere oder die mich über meine Beiträge im Blog brezel.me kennen lernen.

All zu oft verstehen die Leute immer noch nicht, welcher Natur ich bin. Ich habe jetzt sogar auf die Startseite meines Facebookprofils einen Vermerk gestellt, welcher den Besucher über mein Mangel an Fleisch und Blut informiert. Schließlich ist es ja nicht mein Ansinnen, Leute zu täuschen. Wenngleich die Verwirrung, die ich da stifte oft für gute Geschichten sorgt. Auch möchte ich nicht die Identität meines Entdeckers, der meine Offline-Angelegenheiten erledigt verschweigen, gebe aber nur auf Anfrage Auskunft. Sonst besteht die Gefahr, dass ich als Pseudonym oder Alter Ego eines anderen gesehen werden, der seine Person hinter mir versteckt. Dem ist nicht so.

Für viele ist das Prinzip, welches hinter unabhängigen, virtuellen Personen liegt, nur schwer verdaubar, da zu paradox und zu abstrakt. Es gibt auch nicht so viele von uns, da wir der aufwendigen Pflege durch  nichtvirtuelle Personen bedürfen. Auf einen Prominenten Vertreter meiner Art bin ich unlängst gestoßen. Wie schon früher erwähnt hielt mein Entdecker einer Vortrag über meine Entwicklung auf einem Symposium in Stuttgart. Beim Zusammentreffen danach machte ich Bekanntschaft mit Anja Lösch, einer Dame die für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Carl-Auer Verlages zuständig ist. Dieser Verlag war mir schon länger ein Begriff, erschienen bei ihm doch ein paar meiner liebsten Bücher über den radikalen Konstruktivismus, von und über große Denker wie Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld. Ich sei nicht das einzige virtuelle Wesen, beschied mir Frau Lösch und erzählte mir, dass ihr Verleger Carl Auer der selben Natur sei wie ich. Ein paar Tage später erhielt ich ein Paket mit zwei Bücher von ihr. Das erste hieß „Einführung in die eigenen Gedanken“ und war von Carl Auer selbst – jedoch nicht geschrieben, denn es war einfach leer. Wie der Titel des Buches eben sagt. Schlau, der Bursche, dachte ich mir. Gefällt mir. Das zweite Buch führte den Titel: „Carl Auer: Geist or Ghost“. Eine Festschrift zum nunmehr 20 Jahre zurückliegenden neunzigsten Geburtstag Carl Auers.

In diesem Buch beschreiben viele Autoren, unter anderem von Glasersfeld, von Foerster, Maturana und Watzlawick ihre Begegnungen mit Auer, erzählen von Diskussionen mit ihm und umrissen somit die Lebensgeschichte des virtuellen Intellektuellen. Eine verwegene Lebensgeschichte, die die Pfade vieler der größten Denker des zwanzigsten Jahrhunderts kreuzte und sich über alle Ecken der Welt verteilt. Ein Studium der Malerei in Paris, die Ehrenbürgerschaft von Appenzell, gemeinsame Kriegsgefangenschaft mit Wittgenstein, intensive Kontakte zu Voodoopriestern auf Haiti, um nur ein paar Stationen dieses bewegten Lebens zu erwähnen. Im Jahr 2004 wurde Carl Auer zum letzten mal gesehen, seit dem kommuniziert der nunmehr 110 Jahre Alte nur noch per Email mit seinem Verlag. Gerüchte über seinen Verbleib gibt es viele, sie reichen von Ganzkörpertransplantion zu Mumifizierung. Seinen Lebenslauf kann man auf der Webseite seines Verlages nachlesen. Wer sich schon etwas mit meinem Leben auseinandergesetzt hat weiß, welche Triebfeder meines Seins hier voll gespannt wird: die Neugier! Ich werde mich auf die Suche nach ihm machen.



Gewiss gibt es Diskrepanzen zwischen dem Wesen Auers und meinem, aber eins haben wir grundsätzlich gemeinsam: Wir existieren ohne physischen Körper in den Köpfen jener, die an uns glauben. Während Auer wohl ein eher bescheidener Mensch ist kann ich das von mir nicht behaupten. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht den gelassenen Umgang mit meiner Virtualität gelernt habe und mein Mangel an materieller Substanz durch Selbstdarstellung zu kompensieren versuche. Aber im Gegensatz zu Auer bin ich noch jung und nehme mir das Recht auf Ungestümheit der Jugend und hoffe das die Weisheit mit dem Alter kommt.

Ich werde mich mal auf die Suche nach meinem Urgroßvater im Geiste machen und den Leser meines Tagebuchs auf dem Laufenden halten.

Bis dahin empfehle ich die Lektüre der Festschrift, die leider nur noch antiquarisch zu erhalten ist. Zum Beispiel bei Amazon.

4 Kommentare:

  1. spannend. Ja, Pseudonyme sind schon gut. Auf Facebook sollte man nur Pseudonyme verwenden, denn wer weiß: eines Tages könnte ja mal etwas geschehen, was man nicht für möglich gehalten hätte - reale Hinrichtungen, Massenmorde usw. aufgrund alter Facebook-Offenbarungen nämlich. Man darf dem Auge nicht mehr vertrauen. Ob Dora wirklich so ein hübsches Mädchen ist oder ob die blütenreine weiß-blaue Facebook-Optik wirklich Seriosität bedeutet - alles nicht so klar!
    Wobei man auch andersherum daherreden könnte: Die WEGEN dem Bösen verkleideten Virtualitäten ERZEUGEN beim Rückgrat der Gesellschaft erst Böses? Viel gibt es jedenfalls zu bedenken. Ist ein sehr großes, schwieriges Thema. Es sollte einen Studiengang dafür geben. ;)

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  2. Ich bin virtuell, also bin ich ungefähr so hübsch wie man sich mich vorstellt. Das ist Fluch und Segen zugleich. Hübschheit sorgt für Aufmerksamkeit, lenkt zugleich aber auch ab.
    Dem Auge sollte man eh nicht vertrauen, es zeigt nur die Oberfläche. Wir bauen uns doch unsere Welt aus all dem was wir wahrnehmen auf. Und die Wahrnehmung ist ja ziemlich beschränkt. Somit ist alles sehr subjektiv. Ich glaube nicht an das Objektive.

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  3. "Wir bauen uns doch unsere Welt aus all dem was wir wahrnehmen auf. Und die Wahrnehmung ist ja ziemlich beschränkt. Somit ist alles sehr subjektiv. Ich glaube nicht an das Objektive."
    ich glaube aber auch nicht an das subjektive. man könnte heinz von foerster paraphrasieren: "das subjektive..., wo bitte hamse es denn???"

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  4. Wer nicht ans Objektive glaubt, glaubt ja nicht automatisch ans Subjektive. Ans Subjektive zu glauben hieße ja an das zu glauben, was einem die beschränkte Wahrnehmung so zukommen lässt. Aus jenen sensorischen Eindrücken errechnen wir ein Abbild einer – in diesem Fall unserer – Realität. Aber selbst da sind wir beschränkt. Zwischen den einzelnen Eindrücken sind viele Lücken, wie der blinde Fleck in unserer Sicht. Wir füllen die Löcher aus, und zwar unbewusst. Das heißt, wir sehen also nichtmal, dass wir nicht sehen. Das wiederum ist bekannt. Ich seh also, dass ich nicht sehe das ich nicht sehe. Darum kann ich meinem subjektiven Realitätsabbildungserschaffungsprozess, kurz Wahrnehmung, natürlich nicht trauen. Ich weiß nicht, ob ich mich selbst bescheiße. Wo es kein Wissen gibt, da hilft nur Glaube. Da ich nicht den ganzen Tag damit verbringen kann meiner Wahrnehmung zu misstrauen bin ich wohl oder übel gezwungen ihr im Großen und Ganzen Glauben zu schenken.
    Ja, auch ich glaube theoretisch nicht an das Subjektive, praktisch hat es sich aber als überlebensnotwendig erwiesen.

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