Samstag, 19. März 2011

Den Kopf aus dem Sand ziehen.

Die Nachrichten überschlagen sich. Reaktor eins schmilzt, zwei brennt, drei raucht und vier wird gerade gelöscht. Oder so ähnlich. Beim nächsten hektischen Blick ins Internet schmilzt gerade Block zwei, der dritte ist ruhig, dafür kommt jetzt der fünfte ins Spiel. Gaddafi droht damit, die Rebellen zu massakrieren, tausende Japaner werden noch vermisst und die CDU war ja eigentlich schon immer Kernkraftgegner. Schuldige werden gesucht, Szenarien ausgemalt, die Gefahr für Deutschland, das übrigens nicht für das Flugverbot über Libyen, das alle immer Lybien nennen, ist, wird ausgelotet. Experten mutmaßen und wissen genau, was die Japaner angeblich verschweigen und wenn es keine echten Experten mehr zu fassen gibt, fragt man irgendjemand, der schon mal in Japan war oder jemanden dort kennt. Betroffenheit der Nichtbetroffenen auf allen Kanälen. Währenddessen tobt der Wahlkampf an der heimischen Front.

Endzeitstimmung
Anfangs habe ich alle zehn Minuten die Nachrichten auf meinem Internet-Telefon durchstöbert und mich von Hiobsbotschaften per Liveticker berieseln lassen. Irgendwann war meine Kapazität für abstrakte Schrecken ausgelastet, mein Interesse sank und somit die Nachrichtencheckfrequenz. Jede einzelne Geschichte hätte gereicht, mich zu irritieren, doch alle auf einmal ergeben einen eigenartigen Brei der nach diffuser Weltbedrohung schmeckt. Das wissen die Medien auch, drum würzen sie ordentlich ihre Zutaten. Katastrophenbilder remixed zum Musikvideo und alte Horror-Berichte aus Tschernobyl sorgen für Endzeitstimmung. Einerseits weckt das auf – was dringend notwendig war, andererseits schürt es Panik. Das Hamstern von Jodtabletten in Deutschland muss für die wirklich Betroffenen in Japan befremdlich wirken. Doch am schlimmsten sind unsere aufgescheuchten Politiker, die aus der Angst Lobbys oder Wähler zu vergrätzen kopflos durch die Gegend rennen. Ich freu mich ja um jedes Atomkraftwerk, dass still gelegt wird, aber einen schnellen und sauberen Umstieg auf alternative Energie bekommen wir nur hin, wenn wir abseits politischem Kalküls einen gangbaren Weg finden.

Konsens
Die Grundvoraussetzung dafür ist der gesellschaftliche und politische Konsens, dass der Ausstieg gewollt wird und so schnell wie möglich umgesetzt werden muss. Dafür müssen wir unschöne Dinge wie höhere Strompreise, Windkraftwerke, Überlandleitungen und Pumpspeicherkraftwerke in Kauf nehmen. Wir dürfen uns auch nicht davon irritieren lassen, dass an unseren Grenzen weiterhin Kerne gespalten werden. „Wenn wir keine Atomkraft mehr erzeugen, dann machen es die anderen.“ Ein gern gehörtes Argument, mit dem auch Drogendealer ihre Taten rechtfertigen. Die derzeit gestellte grundsätzliche Frage ist: Sind wir für billigen Strom bereit, das relativ geringe Risiko eines unermesslich großen Schaden zu tragen? Ich frage jedoch zuerst: Sind wir überhaupt in der Lage, das Risiko zu tragen? Können wir über das Wohl tausender kommender Generationen entscheiden, denen wir ein strahlendes Erbe hinterlassen? Ich glaub kaum.

Das Mediengetöse hat viele von uns dazu veranlasst, den Kopf aus dem Sand zu ziehen. Noch nie war die Bereitschaft so groß einen neuen, unbequemeren Weg zu gehen. Und wir müssen schnell handeln, denn die Halbwertszeit von Erinnerungen ist geringer als die von Uran. Und währenddessen greift Gaddafi trotz selbst erklärtem Waffenstillstand die Rebellen wieder an.

5 Kommentare:

  1. das laute Dröhnen des "Geiz-ist-geil"-Mantras in den Köpfen ...

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  2. Geiler Geiz heißt in dem Fall eigentlich mehr für's gleiche Geld. Viele wollen immer nur mehr. Manche wollen lieber besser. Nach dem Krieg brauchten wir wohl mehr. Da musste man hart arbeiten um drei Mahlzeiten am Tag zu haben. Heute arbeiten viele hart für 34 Mahlzeiten. Andere wollen lieber nur 3, die dafür aber lecker und gesund. Hier steckt der große Paradigmenwechsel zur Nachwirtschaftswunderzeit, der Wechseln von Quantität zur Qualität.

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  3. An das Kollektiv gewandte, laute und anklagende Betroffenheit, die nebenbei mit dem neuesten Handy-Modell bei der Online-Apotheke ganz leise Jodtabletten für den eigenen Bedarf hamstert, befremdet mich momentan noch mehr als sonst.

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