Freitag, 12. November 2010

Gegen den Strich


Es herrscht Verständnislosigkeit seitens einiger, warum so viele Menschen in Stuttgart oder im Wendland auf die Straße oder Gleise gehen. Unlängst kam in einer Diskussionsrunde zwischen Stuttgart 21 Gegnern und Befürwortern der Vergleich mit der Situation vor der Wahl Hitlers 1933 auf. Damals instrumentalisierten die Nazis die Leute auf der Straße um an die Macht zu kommen, heute sein es die Grünen und Linken, die ähnliches vorhaben. Sie würden versuchen, mit einer lauten Minderheit auf der Straße der schweigenden Mehrheit das Wasser abzugraben. Ich war damals zum Glück nicht dabei, muss aber auch nicht dabei gewesen sein um das Nazivergleichen innewohnende Hinkebein zu erkennen. Anstelle mich darüber gerechtfertigt zu echauffieren, möchte ich mal ergründen, welcher Geist dieses Kind gezeugt hat.

Ziviler Ungehorsam
Viele Menschen bürsten das System gegen den Strich in dem sie sich nicht an die Regeln halten. Sie blockieren Straßen und Gleise, machen Lärm, folgen nicht den Weisungen der Polizei und stellen demokratisch legitimierte Entscheidungen in Frage. Sie nennen das zivilen Ungehorsam und berufen sich auf ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und riskieren dabei sogar verprügelt zu werden. Für jemanden, der seiner Obrigkeit, dem Staat, volles Vertrauen schenkt, ist dieses Handeln nicht nachvollziehbar - es sei denn eine andere Macht hat ihre Finger im Spiel. Irgend wer muss die Leute ja auf die Straße holen, um so gegen die demokratisch legitimierte Regierung anzustinken.

Konformes Unverständnis
Dieses Denkmuster geht automatisch davon aus, dass Menschen einer Obrigkeit hörig sein müssen. Die Option, dass sie unaufgefordert das System hinterfragen, sich selbst eine Meinung bilden und aus freien Stücken zum Widerstand entscheiden sieht es nicht vor. Wer Nonkonformität aus eigener Erfahrung nicht kennt, kann sie nicht verstehen und muss somit zum Schluss kommen, dass die Systemgegner instrumentalisiert seien. Das macht vielen Angst. Sie fürchten eine radikale Minderheit, die außerparlamentarisch die Macht den Gewählten aus der Hand reisen will. Daher der Nazivergleich.

Selbstkritik
Dagegen spricht jedoch die Heterogenität der Gegner. Es gibt bestimmt einige, die ihren Wortführern blind folgen. Doch denen stehen Unzählige gegenüber, die zwar im gleichen Demonstrationszug mit den anderen laufen, aber grundsätzlich unterschiedliche Weltanschauungen haben. Der Bereitschaft, für eine Sache auf die Straße zu gehen, liegt meist in eine kritischen Grundhaltung gegenüber dem System und den Mächtigen zu Grunde. Diese Kritik gilt auch den eigenen Reihen. Diese Selbstkritik entzweit zwar den Widerstand, ist aber dem kritischen Denkmuster immanent und somit ein notwendiges Übel. Würde ein Sprecher der Gegner mit seinem Handeln ins Klo greifen müsste er sich dem vollen Ausmaß der Kritik stellen.

Unrechtssystem
Ein Akteur der Stuttgart 21 Seite hat zumindest geduldet oder gar veranlasst, dass eine Schülerdemo blutig niedergeschlagen wurde. Trotzdem haben sich viele seiner Anhänger hinter ihn gestellt und sein Handeln gerechtfertigt. Sie vertrauen ihm blind, versuchen die Schuld bei den Opfern zu suchen. Mal ganz platt gesagt: Hätte Gegnersprecher Gangolf Stocker den schwarzen Block in ein Junge Unions-Treffen geschickt und die ordentlich vermöbeln lassen hätten ihn die anderen Gegner dafür aus der Stadt gejagt. Und sage keiner, dass im Gegensatz dazu die Polizeiaktion am 30.9. legal war. Ein Rechtssystem, welches Polizeigewalt in diesem Maße rechtfertigt, hat für mich keine Rechtfertigung. Ich bin nicht bereit, das Handeln der Regierung unhinterfragt hinzunehmen. Doch diese Denkweise scheint nicht Serienausstattung zu sein. Leider.

Provokation oder Beschränktheit
Ich hoffe es handelt sich bei all diesen Instrumentalisierungsvorwürfen und Nazivergleichen nur um hirnlos dahergeplapperte Provokation. Das gilt auch für dummes Geschwätz auf Seite der Gegner. Ich respektiere jede Meinung die Resultat kritischen Denkens ist, auch wenn ich sie nicht teile. Wer meine Fähigkeit zur kritischen Meinungsbildung verneint kann mir den Buckel runter rutschen. Wer nicht in der Lage ist, das bestehende System zu hinterfragen wird selbst zum Mitläufer. Da kann man nur hoffen, dass er jemand Anständigen hinterher läuft ...

12 Kommentare:

  1. Im Gegensatz zu früheren Jahren waren Menschen, die sich selbst als "die Grünen" und "die Linken" beschreiben würden, im Wendland die Mitläufer, aber Nachrichtenkonsumenten lieben Angebote knapper Definitionen, wenn es an eigenem Bezug fehlt.

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  2. Beachtlich und sehr nachdenklich hinterfragender Artikel darüber, warum Menschen, die sich kritisch äußern, dies auch noch in einer größeren Versammlung tun, gleichgesetzt werden, wogegen genau diese Leute meist sind: sich instrumentalisieren zu lassen oder als Mitläufer gewertet zu werden. Da ich bei der erwähnten Diskussionsrunde dabei war, finde ich diesen Artikel als besondern "anti-polemisierend" und stimme inhaltlich voll zu!

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  3. Hallo Dora, vielleicht erinnerst du dich an mich, ich war auch in der Diskussionsrunde der StZ. Ich finde deinen Artikel sehr gut, aber eines stört mich doch. Du schreibst es nicht ausdrücklich, aber es kling nicht wenig danach, als unterstelltest du den Projektbefürwortern von S21, sie seien in der Mehrheit obrigkeitshörig. Das glaube ich nicht, auch wenn es welche mit einer Tendenz dazu geben mag. Auch auf unserer Seite gibt es sehr viele, die durchaus systemkritisch sind und ich zähle mich als (ehemals und hoffentlich auch später einmal wieder) eingefleischten Grünen unbedingt dazu. Für mich steht ganz klar das Projekt selbst im Mittelpunkt meines Engagements, aber ich frage mich daneben oft, ob sich auf der Gegenseite nicht längst auch ein "System" etabliert hat, dass es zu hinterfragen gilt. Diese Art "Systeme" sind mir immer suspekt, egal ob Mappus/Gönner oder Palmer/Rockenbauch dafür stehen. Nur zu sagen, die einen hätten ja die Macht, greift imho zu kurz, denn die anderen streben danach, und das lässt sich nicht leugnen, wenn man die laufenden Diskussionen verfolgt. Können sie ja von mir aus auch tun, aber ich finde es verlogen, wenn sie den Bahnhof dafür instrumentalisieren. Ich würde mich freuen, wenn es einfach nur um die Sache ginge, aber das scheint unmöglich geworden zu sein, und dafür haben bestimmte Kreise der Projektgegner längst vor dem 30. Sept. gesorgt. LG Jürgen

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  4. Ich habe versucht die These nicht auf die Befürworter im Allgemeinen anzuwenden, das wäre falsch. Ich beziehe mich auf den oft geäußerten Vorwurf von Grün und Links instrumentalisiert zu werden. Der trifft bei vielen Gegner bestimt zu. Ich distanziere mich von diesen Gegnern, auch wenn ich auf die selbe Demo wie sie gehe. Natürlich versucht jede Seite Wählerstimmen zu fangen, was mir missfällt, ich aber akzeptiere. Ich finde es auch falsch dass Frau Merkel die nächste Wahl zur Abstimmung über den Bahnhof erklärt hat. Für mich ist der Bahnhof für die nächste Wahl nicht entscheidend. Ich finde Themen wie Atomkraft viel wichtiger. Oder noch viel mehr: Nach dem 30.9. hat sich die Regierung für mich unwählbar gemacht, aber das hat nichts mit der Zukunftstauglichkeit des Bahnhofs zu tun.
    Zum Glück gibt es kritische Köpfe auf beiden Seiten, die sich nicht blind hinter die von ihnen favorisierte Partei stellen. Ich freue mich auf weitere Diskussionen mit eben jenen, die sich einen Kopf machen und nicht nur hirnlos rumpöbeln.

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  5. Vielen Dank für die Klarstellung. Den 30.9. bewerten wir unterschiedlich, ansonstem kann ich das alles unterschreiben. Leider "treffe" ich im Internet sehr wenige Projektgegner, die so einen differenzierten Blick haben. Ganz krass in der Hinsicht finde ich z.B. die Facebook-Seite KEIN Stuttgart 21. Im meinem engeren Freundeskreis hingegen gibt es mehrere S21-Gegner, mit denen ich mich sehr gut verstehe, das sollte ich vielleicht auch dazu sagen.

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  6. Ich bin offen für jede Diskussion über den Bahnhof. Der 30.9. ist jedoch was ganz anderes. Ich war vor Ort und habe selbst gesehen, was da geschehen ist. Die meisten jener, die sich für das Verhalten der Polizei und der dahinterstehenden Regierung aussprechen waren nicht da sondern verlassen sich auf das ihnen gesagte. Hätte ich nicht selbst gesehen, was da geschehen ist, dann hätte ich vieleicht auch Schwierigkeiten das alles so zu glauben. Das Gesehene war mit meinem grundsätzlichen Glauben an einen Rechtstaat nicht vereinbar. Allein die Tatsache das keine Krankenwagen in den Park gelassen wurden zeigt mir, wie menschenverachtend die gesamte Aktion war. Wer diese Greueltaten des Staates rechtfertigt, verteidigt oder gar gut heißt muss entweder gehirngewaschen oder bösartig sein. Denn egal welche Umstände die Schülerdemo begleiteten, die Gewalt der Polizei war nicht gerechtfertigt. So etwas darf nie wieder passieren. Egal wie man zum Bahnhof steht, die Verantwortung für den Polizeieinsatz muss getragen werden. Ich wünschte, die CDU würde die geistigen Brandstifter hinter der Aktion aus ihren Reihen werfen. Deshlab werde ich auch auf die Straße gehen solange Mappus an der Macht ist. Das klingt polemisch, ist aber das einzige was mir dazu einfällt. Es sollte doch einem freidenkenden ProS21ler möglich sein das Verhalten von Regierung und Polizei kritisch zu betrachten ohne dabei seinen S21-Glauben aufzugeben.

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  7. Ich kenne 2 Augenzeugen der Geschehnisse vom 30.9., die den Polizeieinsatz umd das Verhalten der Demonstranten ganz anders einschätzen ziemlich gut und ich habe noch ein paar andere Augenzeugen gesprochen, die es ebenfalls so gesehen haben, dass die Aggression (ich sage ausdrücklich nicht Gewalt) von den Demonstranten ausging und die Polizei darauf reagiert hat. Ich habe damals fast den ganzen Tag div. Livestreams verfolgt und mir nachher viele Stunden Videomaterial angeschaut. Meines Erachtens hat die Polizei Fehler gemacht, das mit den fehlenden Sanitätern, vor allem aber die Art und Weise, wie die Wasserwerfer eingesetzt wurden. Ich kenne auch Leute (Projektgegner), die den direkten Wasserstrahl abgekriegt haben, obwohl sie sich abseits der vordersten Reihen aufgehalten haben, und die 4 Verletzten, deren Augenlicht in Gefahr ist, haben mein tiefstes Mitgefühl. Trotzdem glaube ich, dass die Polizei in irgend einer Form reagieren musste, nachdem sie stundenlang unmittelbaren Zwang im Falle eines Nichtbefolgens ihrer Anweisungen angekündigt hatte und die Demonstranten darauf nur immer noch agressiver geworden sind. Prinzipiell hatte sie das Recht auf ihrer Seite. Wie gesagt, es wurden Fehler gemacht, und es ist gut, dass es diesen Untersuchungsausschuss gibt. Das sage ich alles unter Vorbehalt, denn: ich war nicht vor Ort. Aber irgendwie muss ich mir ja trotzdem ein Urteil bilden können, und ich mache es mir zumindest nicht und plappere irgend etwas nach. Doch selbst die Videos, die mir von Projektgegnern zugespielt wurden, konnten mir nicht glaubhaft machen, nur die Polizisten hätten sich falsch verhalten, im Gegenteil. Auch wenn ich die Wut nachvollziehen kann, frage ich mich bis heute, ob sie so eine Eskalation seitens der Demonstranten rechtfertigen kann.

    Eigentlich geht es mir um das Städtebau- und Bahnhofsprojekt undi um die NBS. Selbst wenn ich mit meiner Bewertung des 30.9. total falsch liege, hat das auf meine Einstellung zum Projekt keinerlei Auswirkungen und ich finde es traurig, dass die Ereignisse von den Projektgegnern dazu benutzt werden, um Stimmung gegen S21 zu machen.

    (wer Schreibfehler findet darf sie behalten, alles mühsam ins Handy getippt, am Stuttgarter Hbf., auf einen Zug wartend)

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  8. Wobei ich dir recht gebe: Das ganze hat mit dem Bahnhof nichts zu tun.
    Auch wenn die Stimmung aggressiv wurde ist das keine Entschuldigung für das Verhalten der Polizei. Im Gegensatz zu den Demonstranten waren die Polizisten bewaffnet, gerüstet und sind für solche Situationen ausgebildet. Die Aggressive Stimmung kam ja auch dadurch zu Stande, dass die Polizei ziellos die Menge verdroschen und weggespritzt hat. Mich wundert es noch immer, dass die Demonstranten so friedlich geblieben sind. Ich habe so etwas wie dort noch nie erlebt und hoffe es nie wieder erleben zu müssen. Wenn die Polizei das Recht auf ihrer Seite hat dann stellt sie das Recht in ein schlechtes Licht. Ein Recht, welches auf solche Weise durchgesetzt wird ist fürchterlich und widerspricht meinem Rechtsempfinden.
    Ich hoffe das im Untersuchungsausschuss alles auf den Tisch kommt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Stuttgart21 kann auch ohne Mappus gebaut werden. Oder auch nicht, was natürlich eher meine Sicht der Dinge ist ;-)

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  9. und mich wundert es, wie die Polizisten es geschafft haben, ruhig zu bleiben und niemanden zu töten, obwohl sie doch stunden-, tage- und wochenlang auf übelste Weise beschumpfen und tätlich angegriffen worden sind. Ich war doch AUCH dabei! Ich hab doch AUCH Augen und Ohren am Kopf! Dem Jürgen Fenner muss ich meinen tiefsten Dank und meine größte Bewunderung für seine diplomatischen Gegendarstellungen hier aussprechen, auch wenn ihm das möglicherweise gar nicht lieb ist, jedenfalls: Er hat mit mir nichts zu tun. Dora, Du (und Du bist nicht allein) machst hier Propaganda wie einst der Nazilügner Goebbels. Und auch meine Kommentare werden immer extremer, bald werde ich die Todesstrafe mit vorheriger Folterung und medizinischen Experimenten für Dich und Dein Lügenpack fordern, das die Wahrheit verdreht, dass einem schlecht wird - aber man muss doch Eurer Verlogenheit etwas entgegensetzen, wenn man sich irgendwann mal wieder in der Mitte treffen will! :)

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  10. Dieser Vergleich stammt, mit verlaub gesagt, aus einem kranken Hirn.
    Die Grundrechte und das Grundgesetz wurden geschaffen um die staatliche Willkür zu unterbinden. Sie schützen den Bürger vor dem Staat und sie waren mal gut. Warum schreib ich waren, es gibt Parteien die versuchen diese Grundrecht stückchenweise abzuschaffen. Ich schätze, es sind genau die Parteien die solche vergleiche heranziehen.

    Es muss uns klar sein das wir alles aber auch alles tun müssen um zu verhindern das unsere Grundrechte abgeschafft werden. Denn sonst holt uns die Geschichte ein.
    Was wiederum den Spruch bei mir hervorhebt, der Mensch oder die Partei geht von sich selber aus.

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  11. Ich denke bei den 60000 Demonstranten nach diesem Vorfall waren auch einige ProS21er dabei. Die haben sich nicht zu erkennen gegeben da es ja auch eine Reaktion auf den 30.09. war.
    Warum ich das denke ?
    Ganz einfach, nach dieser Demonstration gab es nie mehr so viele Demonstranten bei den Demos.

    Ganz ehrlich redest Du mir da aus dem Herzen, denn auch ich gehe seit diesem Tag zu jeder Samstags Demo.

    Es würde mich freuen wenn es kurz vor der Wahl eine Demo geben würde, die sich ausschließlich damit und mit den gestohlenen Grundrechten befasst. Also keine Demo bei der auch nur der Bahnhof mit einem Wort erwähnt wird. Das würde auch den Befürwortern, oder denen die keine Meinung zum Bahnhofs Thema haben, die Chance geben dabei zu sein.
    Spitz formuliert, könnten Gegner und Befürworter so etwas aus dem Boden stampfen und damit ein eindeutiges und einmaliges Zeichen in Stuttgart setzen.
    Die Verantwortlichen müssen Ihre Verantwortung übernehmen und gehen !

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