Es herrscht Verständnislosigkeit seitens einiger, warum so viele Menschen in Stuttgart oder im Wendland auf die Straße oder Gleise gehen. Unlängst kam in einer Diskussionsrunde zwischen Stuttgart 21 Gegnern und Befürwortern der Vergleich mit der Situation vor der Wahl Hitlers 1933 auf. Damals instrumentalisierten die Nazis die Leute auf der Straße um an die Macht zu kommen, heute sein es die Grünen und Linken, die ähnliches vorhaben. Sie würden versuchen, mit einer lauten Minderheit auf der Straße der schweigenden Mehrheit das Wasser abzugraben. Ich war damals zum Glück nicht dabei, muss aber auch nicht dabei gewesen sein um das Nazivergleichen innewohnende Hinkebein zu erkennen. Anstelle mich darüber gerechtfertigt zu echauffieren, möchte ich mal ergründen, welcher Geist dieses Kind gezeugt hat.
Ziviler UngehorsamViele Menschen bürsten das System gegen den Strich in dem sie sich nicht an die Regeln halten. Sie blockieren Straßen und Gleise, machen Lärm, folgen nicht den Weisungen der Polizei und stellen demokratisch legitimierte Entscheidungen in Frage. Sie nennen das zivilen Ungehorsam und berufen sich auf ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und riskieren dabei sogar verprügelt zu werden. Für jemanden, der seiner Obrigkeit, dem Staat, volles Vertrauen schenkt, ist dieses Handeln nicht nachvollziehbar - es sei denn eine andere Macht hat ihre Finger im Spiel. Irgend wer muss die Leute ja auf die Straße holen, um so gegen die demokratisch legitimierte Regierung anzustinken.
Konformes UnverständnisDieses Denkmuster geht automatisch davon aus, dass Menschen einer Obrigkeit hörig sein müssen. Die Option, dass sie unaufgefordert das System hinterfragen, sich selbst eine Meinung bilden und aus freien Stücken zum Widerstand entscheiden sieht es nicht vor. Wer Nonkonformität aus eigener Erfahrung nicht kennt, kann sie nicht verstehen und muss somit zum Schluss kommen, dass die Systemgegner instrumentalisiert seien. Das macht vielen Angst. Sie fürchten eine radikale Minderheit, die außerparlamentarisch die Macht den Gewählten aus der Hand reisen will. Daher der Nazivergleich.
Selbstkritik
Dagegen spricht jedoch die Heterogenität der Gegner. Es gibt bestimmt einige, die ihren Wortführern blind folgen. Doch denen stehen Unzählige gegenüber, die zwar im gleichen Demonstrationszug mit den anderen laufen, aber grundsätzlich unterschiedliche Weltanschauungen haben. Der Bereitschaft, für eine Sache auf die Straße zu gehen, liegt meist in eine kritischen Grundhaltung gegenüber dem System und den Mächtigen zu Grunde. Diese Kritik gilt auch den eigenen Reihen. Diese Selbstkritik entzweit zwar den Widerstand, ist aber dem kritischen Denkmuster immanent und somit ein notwendiges Übel. Würde ein Sprecher der Gegner mit seinem Handeln ins Klo greifen müsste er sich dem vollen Ausmaß der Kritik stellen.
UnrechtssystemEin Akteur der Stuttgart 21 Seite hat zumindest geduldet oder gar veranlasst, dass eine Schülerdemo blutig niedergeschlagen wurde. Trotzdem haben sich viele seiner Anhänger hinter ihn gestellt und sein Handeln gerechtfertigt. Sie vertrauen ihm blind, versuchen die Schuld bei den Opfern zu suchen. Mal ganz platt gesagt: Hätte Gegnersprecher Gangolf Stocker den schwarzen Block in ein Junge Unions-Treffen geschickt und die ordentlich vermöbeln lassen hätten ihn die anderen Gegner dafür aus der Stadt gejagt. Und sage keiner, dass im Gegensatz dazu die Polizeiaktion am 30.9. legal war. Ein Rechtssystem, welches Polizeigewalt in diesem Maße rechtfertigt, hat für mich keine Rechtfertigung. Ich bin nicht bereit, das Handeln der Regierung unhinterfragt hinzunehmen. Doch diese Denkweise scheint nicht Serienausstattung zu sein. Leider.
Provokation oder BeschränktheitIch hoffe es handelt sich bei all diesen Instrumentalisierungsvorwürfen und Nazivergleichen nur um hirnlos dahergeplapperte Provokation. Das gilt auch für dummes Geschwätz auf Seite der Gegner. Ich respektiere jede Meinung die Resultat kritischen Denkens ist, auch wenn ich sie nicht teile. Wer meine Fähigkeit zur kritischen Meinungsbildung verneint kann mir den Buckel runter rutschen. Wer nicht in der Lage ist, das bestehende System zu hinterfragen wird selbst zum Mitläufer. Da kann man nur hoffen, dass er jemand Anständigen hinterher läuft ...